Und keiner glaubt's

Und weil mir keiner glaubt, es nie jemand gegeben, doch nirgends ein Mensch existiert, der sich vielleicht dafür interessiert, was ich wohl recht aufdringlich, langatmig erörternd, fast ständig schwadronierend und anstrengend entwickelnd, am Ende vielleicht doch recht trocken, mindestens berichten, eventuell sogar erzählen könnte, habe ich beschlossen, es dennoch zu Papier zu bringen. Nur damit fängt es schon an. Sind nicht meine Sorgen, es sind ja nicht nur die meinen, irgendwelche „Ereignisse“, tagtäglich so leidvoll erfahren, im Grunde viel eher das Gegenteil? Im Laufe so vieler Jahre ist eigentlich gar nichts passiert. Ohne daß man es richtig bemerkt, hat es sich so ergeben, sich irgendwie so eingeschlichen, daß äußere Geschehnisse, Erlebnisse, die diesen Namen verdienen, von irgend jemand persönlich bezeugt, im Grunde genommen verblieben.

Ist wirklich nichts geschehen, das irgendwie erwähnenswert? Daß meine Tätigkeit sinnlos ist, ein Stumpfsinn von Wiederholung, in jeder einzelnen Stunde, nach vorgegebenem Ritus und eigentlich ganz unabänderlich, ich 60 Minuten aufopfern muß, bestreitet ganz sicherlich keiner, und dennoch wird es von niemand bemerkt. Und dennoch geschieht es durch mich. So wird die Zeit von mir aufrecht erhalten, ja erst durch mich geschaffen, wird zu einem Pflichtprogramm, und trotzdem verbleibt mir gar keine Zeit. Daß die Minute von Anbeginn aus 60 verdammten Sekunden besteht, ich muß es wiederum eingestehen, ich habe es selbst so gewollt, bin selbst der Erzeuger höchst berechnender Langweiligkeit. So hasse ich jeden Tag, der ebenfalls der meine ist, aus 4 mal wieder 6 Stunden besteht, der in 2x6 Monden, doch nur durch meine eigene Schuld, das Erdenjahr bestimmt.

So mangelt es mir ganz bestimmt nicht an Fleiß. Doch etwas in meinem Kopf, das dreht sich beständig um mich. Es hat mich eingefangen. Ich lasse es nicht mehr los. Es ist eine Welt aus Zahlen, doch nur dazu bestimmt, mich selber zu verwirren. Und nur durch diese Zauberei arbeite ich willenlos im Grunde doch gegen mich selbst! Man müßte sich eigentlich wehren, doch stelle ich mich selbst mir vor, sehe ich wieder nur Zahlen; dann wird aus 6 gleich 12, aus 5 mal 6 genauso 12 und 2 dazu sind 8 und deshalb gute Nacht!

Die Menschen sind aber schuldlos. Denn keiner wurde mir untreu. Einer hat sie alle verführt, im Grunde genommen gezwungen, mich schließlich doch ganz zu vergessen. Und deshalb bin ich viel einsamer als irgendein Mensch je zuvor. Obwohl mir doch alles gelingt, bleibt mir doch gar nichts mehr übrig: Ich arbeite nur noch nach Auftrag, halte mich streng an die Anweisungen, die kommen schließlich alle von Sesch; betreffen nur immer die Namen, er hat einen schrecklichen Hunger nach allen möglichen Namen, und diese wilde Gier befriedigt ihm sonst doch kein Mensch.

Dabei hat die Namensproduktion, das automatisierte Erstellen von Namen, und deren ständige Anpassung, doch gerade erst richtig begonnen. Noch immer ist man sehr bemüht, daß es in aller Heimlichkeit, unter Ausschluß der Öffentlichkeit, sozusagen ganz leise geschieht. Wer hier die Regeln bestimmt, die allgemeinen Gesetze von vornherein festlegt, den Riesenstrom der Namen, mit allen seinen Nebenflüssen, Staudämmen und Wehren, der daraus erzeugten künstlichen Flut, im Hintergrund auch lenkt; von einem sehr finsteren Ort in seinen Gesamtplan einbringt, der zaubert die Zukunft der Welt. So wird mit jedem Tag das Unglück auch neu produziert. Und dabei ist es egal, wie trügerisch einzelne Namen, ob süßlich oder märchenhaft, sie werden ohnehin sehr leicht schal, wirken schon immer leicht abgestanden.

Erzeugen kann ich die Namen seit langer Zeit schon nicht mehr. Doch regelrechte Namen, ja ursprüngliche Bezeichnungen noch irgendwo zu finden, gestaltet sich immer schwieriger.

Erst gestern bekam ich Besuch, erhielt eine ernste Ermahnung. Fast freundlich zwar, jedoch sehr bestimmt, sprach mit mir Frau Sowieso. Sie trägt schon selbst keinen Namen. Sie nahm mich regelrecht ins Verhör: Ich würde ihr Namen vorenthalten, sie regelrecht beschützen, und irgendwo in meinem kleinen Büro, den Schreibtisch hatte sie unter Verdacht, der sei für den Raum ohnehin viel zu groß, vor ihrem Zugriff bewahren. Dort gibt es tatsächlich ein Schublädchen, das ist ihr nicht geheuer. Es selber zu öffnen, wagte sie nicht. Sehr bald jedoch, so drohte sie, erfolgt eine Untersuchung, dann wird es womöglich sehr unangenehm.

Zwar sammle ich immer noch Namen nach hergebrachter Art. Doch vorenthalten habe ich Sesch tatsächlich noch nie einen Namen. Für jeden Namen ein Zettelchen. Nachdem ich sie ganz sorgsam auf Zettelspießer aufgereiht, staple ich die Namen in hohen, gelben Pappkartons. Der Arbiter holt sie dann ab. Sie sind schon in jenem Moment, wenn er sie mir aus den Händen reißt, wie auf Flügelschuhen am Hauseingang vorbeigerast, auf seltsame Weise „abgehakt“, ja regelrecht verbraucht.

Wozu braucht nun Sesch all die Namen? Ich habe ihn niemals gesehen, denn alles geschieht doch in Heimarbeit. So komme ich aus meiner Wohnung nun eigentlich niemals heraus. Doch eines Tages hat mir Frau Faf, ich kenne sie auch nur vom Telefon, seine Sekretärin und sicher eine geringe Instanz in seinem gewaltigen Reich, fast beiläufig erzählt, daß Sesch gerade meine Pappkartons mit Wohlwollen zur Kenntnis nimmt. Er läßt sich dafür sogar Zeit, wenn er wie zur Probe einen der Deckel ganz vorsichtig hebt, schnüffelt als wahrer Experte und echter Connaisseur, mit einem wissenden Lächeln an meinen toten Namen. Sie werden danach, zusammen mit all den anderen, an unbekanntem Orte verbrannt.