Die Geschichte von den Eingängen
Es könnte im Grunde nicht einfacher sein: Wenn jemand zu sich einen Eingang erschafft, dann lebt er von der übrigen Welt wohl längere Zeit schon getrennt. Doch weil man sich nach Menschen sehnt, nach irgend einem Besuch, habe ich mit eigener Hand mir Türen und Tore gezimmert, die sollten eigentlich groß genug sein, habe sie tatkräftig eingebaut, mitunter die Mühe auch nicht gescheut, sie in den nackten Fels zu schlagen.
Doch Eingänge gibt es genug. Und sei es nur ein hölzernes Tor zu einem bescheidenen Hof, eine ganz billige Tür aus schlecht verleimten Sägespänen, ja selbst eine goldene Pforte zu einem erlauchten Palast. So bin ich denn wirklich bescheiden. Ich hatte auch nie übertrieben, wollte doch nur, daß jemand recht bequem, zumindest wohl gelegentlich, die kleine Barriere durchquert, nun endlich wieder zu mir, in einen der zahlreichen Eingänge schlüpft. So hatte ich gehofft, es wenigstens vermutet und war doch davon ausgegangen, daß jeder seinen Eingang kennt, würde ihn nicht mehr vergessen und kann von Fall zu Fall, mit Rücksicht auf seinen Geschmack und all den kleinen Vorlieben, sich einen etwas anderen wählen; er möchte ihm nur gefallen. So bliebe unser Kontakt im Grunde genommen bestehen.
So gab ich den Menschen die Freiheit, fast jedem Eingang sein eigenes Maß; und manche behaupten sogar, es sei des Guten zu viel gewesen.
Zwar laufen die Gänge oft eng aneinander, sind in sich verschlungen, doch ohne sich je zu vermengen, teilen sie sich bald, um schließlich tief in mir sich restlos zu vereinen. So war es zumindest gedacht und trotzdem wohl kaum zu vermeidenden, daß dieses recht komplexe Geflecht mit der Zeit doch Verwirrung stiftet, den Keim für persönliches Streben, ja eigenmächtige Ambition von Anfang an wohl in sich trug. Doch nur durch meine Geduld, die eigentlich niemals versiegt, meine schier endlose Liebe; dies wage ich sogar noch heute ganz offen auszusprechen, wurde dieser Prozeß überhaupt am Leben erhalten, der schließlich jedoch, es war vielleicht auch meine eigene Schuld, all die Zwietracht säte zwischen den Menschen und mir.
Und dabei darf wohl als Faustformel gelten: Je gebildeter ein Mensch, je stärker sein persönliche Wille, desto größer sind auch die Gefahren, sich noch in die feinsten Verästelungen, Nebentunnel und Abzweigungen meines Ichs zu verirren.
Doch bestand nicht ein reger Verkehr auf allen meinen Wegen? In jedem einzelnen Augenblick, so hoffe ich noch heute, da könnte wohl jemand erscheinen, sich irgendwie bemerkbar machen; ein mir allerdings höchst willkommener, durch nichts zu ersetzender Gast!
Doch früh schon erschuf man Probleme, führte am Anfang noch ungeschickt fast überall Beschwerde, versuchte sehr bald eine wahre Flut, doch niemals aus eigener Kraft, meist schriller Proteste auszuklügeln, die oft allerdings mit dem Anstrich einer gewissen Gelehrsamkeit, und erst nach längerer Zeit dann regelrechte Anklagen gegen mich ergaben, die hintergründig ausgenützt, den übelsten Verleumdungen zur billigen Grundlage dienten.
Als wäre das noch nicht genug, wurde es bald schon zur schlechten Gewohnheit, mir meine schwindende Kraft nun überdies zum Vorwurf zu machen. Ein Teufelskreis nahm seinen Lauf, der nährt sich aus endlosen Unwahrheiten, und jeder Versuch der Verteidigung verschlimmert ihn von selbst. Mit ständig schwindendem Zuspruch verlor ich all mein Selbstvertrauen, ja schließlich sogar die Fähigkeit, mich von meinem Platz zu erheben, mich überhaupt noch zu rühren. An meinen eigenen Ort gefesselt, in mich selber eingesperrt, kann ich doch gar nichts dafür, daß meine Behausungen klamm geworden, durch klapprige Fenster so ausgekühlt, ja zugig und selbst im Inneren schon regelrecht zerzaust. Ich muß es wohl endlich auch eingestehen, viele meiner Wohnungen, nur diese Bezeichnung erscheint schon verfehlt; es sind oft nur Vertiefungen, noch nicht einmal mehr Nischen, sie könnten wohl sehr viel gemütlicher sein, kennen oft weder Tisch noch Stuhl. Denn leider fehlen die Mittel für eine passende Einrichtung.
Nur gibt es nicht Straßen genug? Und dennoch kommt niemand zu mir. Fast alle meine Eingänge, Öffnungen und Schlupflöcher wurden schon seit längerer Zeit von keinem mehr besucht, sind von allen verlassen, ja vollkommen verwaist.
So bleibt mir doch gar keine Wahl; ich warte hier umsonst, spüre auch längst meine Glieder nicht mehr, habe schon manchmal den Eindruck, als wären sie von mir getrennt; denn ohne daß ich etwas bemerkt, es gab keinen Schmerz, nur ein taubes Gefühl; werde ich geräuschlos, doch stückweise amputiert.
Man sollte sich aber nicht täuschen: Selbst über mein sterbendes Reich führt jemand noch Statistik! Ich stehe unter Beobachtung und das schon seit ewiger Zeit. Es ist aber nicht irgendwer, der mich so streng observiert, denn ausgerechnet Herrn Tēm fletscht über mir die Zähne, zeigt seine blutigen Lefzen, der allerhärteste Hund im Höllenheer der Überwacher, ein enger Mitarbeiter und treuester Helfer von Sesch. Wohlüberlegt und geduldig zählt er jeden Reisenden, der auch nur in die Nähe meiner Behausungen kommt, macht dabei keinen Unterschied zwischen den Wachen und Toten, überprüft überhaupt jede Wanderung, ob einzeln oder en gros. In jedem einzelnen Augenblick werden seine Zahlen an den Arbiter weitergeleitet. Auch dieser so scheinbar neutrale Agent betet schon beinahe täglich vor den Altären Rekäms, auf denen ein jedes Ding ganz zwangsläufig zu Staub zerfällt, den Sesch jedoch in seiner Weisheit zum höchsten Gott erhob.
Doch niemals braucht ein solcher Gott, seine Befehle noch auszusprechen. Die Welt zerrinnt von innen; in jeder Minute geschieht es von selbst, und deshalb wird alles zur Information.
Und manchmal hält Tēm sogar inne, läßt von meiner Tortur einmal ab; möchte nämlich ganz heimlich, mit vorgehaltener Hand, lächelt schon beinahe freundlich dabei, mir endlich etwas raunen, geheimnisvoll mir flüstern. Er weiß um meine Wehrlosigkeit; bin ich doch schließlich gefesselt; freut sich jedoch wie das Rumpelstilzchen, beugt sich fast zärtlich zu mir, krümmt den buckligen Rücken, scharrt auf dem Boden vor Wut, tritt mich noch etliche mal, sein scharfer Fuß, der aufgespalten, verfehlt mich leider nie. So bin ich es aber gewohnt. Dann zischt er mir etwas ins Ohr:
„Sesch rückt die Erde fort, Du weißt es und kannst doch nichts tun; es änderte auch nichts daran, denn Sesch entzieht die Erde fortlaufend den Blicken der Menschen!
Wie hat er dies alles erreicht, mit einem Schlag die Probleme gelöst? Ich will es Dir sagen: rein technisch! Dazu braucht er nur ein spezielles Gerät, ich nenne es ein Fernteleskop, das leistet ihm diesen magischen Dienst. Er hat es massenhaft produziert, es gibt wohl Milliarden davon, für jedes Seelchen eines. Die Menschen jedoch, sie erliegen ihm, versteinern sozusagen, wenn sie es auch nur nur kurz betrachten. Zwar schauen sie recht gelangweilt hindurch, sie haben aber gar keine Wahl!
Wir haben es also geschafft, er hat die Menschen dazu gebracht, zunächst einmal betrogen, dann zwangsläufig besiegt, verführt wäre wohl nur ein anderes Wort; die Welt nur durch sein Fernteleskop, nichts anderes mehr zu betrachten. So weise regierte noch keiner! Sesch hat in seiner Trickkiste nun wirklich sehr lange gekramt, ist ihr bis auf den Grund gegangen, hat vor des Betrachters Auge die Objektive umgekehrt, die Welt einfach verdreht. Auf ewig bleibt er zu preisen, mit Lob zu überschütten, was vorläufig besser noch heimlich geschieht, denn so etwas glückt wohl nur ihm, dem größten aller Magier! Im Grunde schaut Ihr nur durch sein Rohr, das innerlich ganz ausgehöhlt, nur seine eigene Welt abbildet, zieht Euch in sie hinein, und das geschieht fortwährend, bewegt die Menschen in ihm, doch eigentlich in Sesch, daß sie in jenem Gebilde nun vollkommen gefangen sind, für Sesch jedoch dadurch geheiligt, weil alles darin zugrunde geht.
So wird die Welt fast überall so einzigartig gleich, zugleich jedoch auf den Kopf gestellt, und Eure liebe, alte Welt, die ist doch längst schon seine, und ohne daß es noch jemand bemerkt, in fremden Besitz einfach übergewechselt!“
So spricht Tēm in gehässigem Ton, erzählt es mir immer wieder. Er weiß, er hat gewonnen, genießt seinen späten Triumph, kostet die niederen Triebe, er ist ja halb Tier und halb Gott, in seiner Allmacht stets bis zur Neige aus. Doch außer mir gibt es keinen, dem er es erzählen darf. Wenn er mich schließlich doch ganz vernichtet, ergibt sich daraus wohl ein kleines Problem. Denn niemals weiht er Sterbliche, gewisse Ausnahmen mag es wohl geben, in seine Geheimnisse ein.
Seschs äußerst moderne Technologie, sehr viele haben dafür gesorgt, uns unablässig geholfen, die funktioniert aber prächtig. Mit Hilfe seines Fernteleskops blickt jeder auf sein Land nur noch aus größter Entfernung und ausschließlich von oben. Wobei Sesch jenen Abstand noch immer weiter erhöht. Seschs Dienern bleibt deshalb schon längst keine Wahl, sie äffen es ihm nach, wetteifern, ja überschlagen sich in reiner Unterwerfung, die buchstäblich gar keine Grenzen mehr kennt. Auch die Helfer von Tēm üben sich in diesem Himmelsblick, der Weltraumperspektive. So wird aus größter Entfernung ein jedes Land seltsam ausgehungert und nebenbei schrecklich eben und flach. So wird die Welt zusammengeschrumpft.
Doch gehen nicht alle Straßen zu mir, sollten zumindest doch wohl theoretisch bei mir sich alle vereinen?
Zwar kenne ich seine Befehle, habe schon manches darüber gehört, was schrecklich ist und höchst modern. Nur fehlt darin eine Dimension; ich weiß nicht, da gibt es etwas, das ist mir vollkommen fremd, weshalb es mir auch nicht gelingt, mich gegen solche Zauberei noch irgendwie zu verteidigen.
Die wehrlosen Straßen, scheuesten Wege und opferbereiten Alleen begreifen die Menschen, sie haben nichts andres gelernt, ausschließlich noch als Fläche, die keinerlei Umrahmung kennt. Sie halten sich für Insekten, kleinen Krabbeltierchen, die flugunfähig geboren, zu gar nichts anderem mehr bestimmt, als hilflos darauf herumzukriechen. Sie denken nicht gerade sehr gut über sich, bekommen natürlich nichts andres erzählt, verkennen ihr eigenes Ziel. Sie haben sich auf jener Oberfläche, sie nennen es den Erdenball, nur scheinbar ganz gut eingerichtet. Ihr Globus ist ein riesiges Ei, das nur etwas zu rund geraten. Sesch hat es mit endlosen Kriegen nun schließlich aber hart gekocht. Auf einer rissigen Eierschale spannt Tēm nun die Berge und Täler, ja selbst das Meer, die übrig gebliebenen Städte und aufgeschwemmten Menschenleiber wie abgerolltes Klopapier. Es wäre für Sesch nun ein Leichtes, auch diese kläglichen Überreste in Windeseile abzuwischen.
Und jedesmal, wenn eine Gruppe, eine Gemeinschaft von Menschen stirbt, erschallt dort ein grelles Geschrei, ein Ausdruck teuflischer Freude. Tēm gibt dann ein riesiges Fest. Und wieder ist ein Teil von mir für immer vollkommen taub, ein weiteres Stück endlich abgestorben, ich fühle es nicht mehr. Dann jauchzt Tēm aber vor Freude, vergnügt sich mit den seinen auf unvergleichliche Art. Sie halten sich für Übermenschen, betragen sich aber wie Vieh.
Ihr müßt mir nur endlich glauben, daß ich dies nicht verhindern kann, hatte nicht die geringste Chance, auch niemals die Mittel dazu! Mir selbst dies endlich auch einzugestehen, es fällt mir bis heute so schwer. Die Menschen überschätzen mich. Sesch hat zwar von mir gelernt, daran gibt es gar keinen Zweifel, dies alles von mir abgeschaut, lehrte den Menschen doch meinen, den göttlichen Sattelitenblick, doch nützt diese Einsicht mir wenig. Längst wurde jedes Land klammheimlich von Tēm aufgeteilt. Rasch ist es in Zahlen gefaßt und damit eigentlich schon besiegt, hoch aus der Luft schrecklich abgeknipst und rücksichtslos kartographiert.
Doch sind für Sesch jene Oberflächen noch richtige Dioramen, mit denen er schon etwas anfangen kann. Er kennt noch mehr als nur zwei Dimensionen, besitzt auch durchaus noch die richtigen Karten.
Doch manchmal kommt es mir vor, als sei ich es selber gewesen, der ihm dies alles beigebracht. Als sei es doch meine eigene Schuld. Es gibt nur den kleinen Unterschied, daß er als alter Modellbauer, den keiner überbieten kann, auf seinen Dioramen nicht nur zu besonderen Anlässen spielt. So fährt Sesch die Miniaturen an langen Spinnenfingern fast ständig hin und her. So opfert er ganz nach Belieben. Darin ist er niemals zu schlagen. Stets hat er die richtigen Informationen, weiß, wie etwas geschieht, und wann es passiert, wo Wege sich kreuzen, wie man eben unterirdisch, wenn etwas oben nicht richtig läuft, auf gezielte Weise gegenlenken kann. Nicht einer von denen, die er so transportiert, kommt bei mir noch an.
So hängen sämtliche Straßen an unsichtbaren Fäden, sind im Grunde Förderbänder, die Sesch aber doch alle kontrolliert, mit tēmscher Technik koordiniert. Wer aber das Reisen gewohnt, und nur immer schneller fährt, verliert das Gespür für die Landschaft. Wenn Tēm seine Dioramen ein wenig variiert, ein neues Modell der Landschaft einführt, bemerkt es der Reisende kaum.
Im Grunde wird an der Autobahn die Gegend nur sehr schnell vorbeigeschoben. Tēm wendet im Notfall die schöne Landschaft am Straßenrand so leicht wie eine Fußmatte um. Und falls es einer bemerkt, daß seine Fahrt jemand lenkt, wird das Förderband abgeknipst, wie eine Zugbrücke hochgerissen, ganz ohne jede Vorwarnung; dann kippt das kleine Modellauto um, geschieht ganz nebenbei, was man wohl sonst einen Unfall nennt.
Ende